Seit 2004 finden in Österreich jeden Juli sogenannte peacecamps statt.
Sie bringen an die 40 Jugendliche und etwa 15 Erwachsene in der Ruhe und Beschaulichkeit der Natur, fernab von Tagesgeschäft, Alltag und Konsum zusammen und bieten Raum für eine Begegnung besonderer Art. Ein Wald, ein Feld, ein Hügel, ein Berg stecken den Übergangsraum ab, in welchem die anwesenden Personen Gelegenheit bekommen, sich selbst in der Begegnung mit anderen zu erfahren, zu entdecken, das eigene wie das „nicht-eigene“ Selbst zu ergründen, sich im Spiegel dieser Begegnung mit gerade diesen Anderen auf vielleicht neue Art zu finden. Es kommen Andere, denen sie bislang nur mit Furcht, meist aber noch nie begegneten: nahe, fremde, ferne Nachbarn, magisch vergrößerte, phantasierte, zu Leben gewordene Feindbilder, Projektionen eigener unliebsamer, weggedrängter, abgespaltener Anteile, aber auch zu Fleisch und Blut gewordene, ganz reale, lebendige und bedrohliche Andere, die aber gleichfalls nach Projektionsflächen für ihre gewaltigen, gewaltbereiten, schwer zu bändigen Impulse und nach Auffanggefäßen für das ungezähmt ausufernde Drängen nach Rache und Vergeltung darben.
Israelis, Palästinenser, Ungarn, Österreicher, Slowenen, Moslems, Juden, Christen, bilden die Zusammensetzung der peacecamps, Gruppen also, die sich über Zugehörigkeit und Abgrenzung, über einschließen und voneinander abgrenzen definieren. Die Beziehungen dieser Menschen und Gruppen zueinander ist von kollektivem Bewusstsein, von tradierten Vorstellungen über die der eigenen Gruppe zugehörigen, „Guten“ und die Anderen, ausgegrenzten, „Bösen“ geprägt, von der Wahrnehmung der eigenen Gruppe als Opfer und der anderen – als potentielle oder reale Angreifer oder Täter. Diese Spaltungen sind der Motor für sich zwanghaft wiederholende, mit jedem Mal eskalierende Kreisläufe von Gewalt, Rache und Vergeltung.
peacecamp lädt jüdische und palästinensische Jugendliche ein, sich einander im Beisein zweier anderer Gruppen – Österreicher und Slowenen, bzw. Ungarn, auf Augenhöhe zu begegnen und einander wirklich kennen zu lernen.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisen mit ihrem persönlichen Familienalbum – einer Dokumentation ihrer persönlichen Familien- und Lebensgeschichte an; als Gruppe bringen sie zusätzlich einen Abriss ihrer jeweiligen Kultur- Religions- und nationalen Geschichte mit. Sie bereiten einen „Kulturabend“ vor, der dazu dient, die eigene Gruppe mit ihren religiösen, kulturellen und sonstigen Charakteristika vorzustellen. Ein Team aus Kunsttherapeuten, Künstlerinnen und Künstlern regt zu einem kreativen Umsetzen dieser Inhalte an, bei denen sich vorgefasste, polarisierende Vorstellungen vom jeweils anderen an Hand der sichtbar werdenden Ähnlichkeiten oder Unterschiede auflösen und relativieren können; gemeinsame Entspannungsübungen, Meditation, ein gemeinsames Herangehen an kniffelige, lustige, spannende aber auch fordernde Aufgaben und Fragestellungen bieten Gelegenheit, die imaginierten „Anderen“ anders als bisher, nicht nur als komplementär oder konträr zum eigenen Selbst, sondern vielleicht diesem auch ähnlich, verständlich, nachvollziehbar oder annehmbar erleben zu lassen. Es können sich hier neue Beziehungsmodi ergeben, in denen mit „dem Feind“ kooperiert, gelacht, geweint, geliebt, rebelliert wird, in denen sich Feinde miteinander verbünden und sich neue Gruppen als die ursprünglichen bilden. Kernpunkt sind die „Friedensgespräche“, in denen von Experten (Pädagoginnen und Pädagogen, Historikerinnen und Historiker) moderiert, komplexe Konstellationen und Probleme der Gesellschaft erforscht und diskutiert werden können: Minderheiten, Stellung der Frau, Stellenwert der Religion, religiöse und nationale Gepflogenheiten, Diskriminierung, Heimatlosigkeit oder Flucht.
In den täglichen analytischen Großgruppen bekommen alle teilnehmenden Generationen, Nationen, Religionen sowie alle Personen Gelegenheit, die hier und jetzt wach werdenden Emotionen wahrzunehmen, zu teilen und anzunehmen. Unendlich groß ist der entstehende Raum, in welchem bewusste und unbewusste, angenehme und unlustvolle, gesellschaftlich akzeptierte oder verpönte Gefühle ausgesprochen, ausprobiert, angedacht, fantasiert, von ihren Projektionsflächen zurückgeholt und dem eigenen Selbst zugeordnet werden können. Hier entsteht Raum für empathisches Zuhören, für das Gewahr werden nicht nur des eigenen, aber auch des fremden Leidens, für ein Verstehen, dass man nicht nur selbst Opfer ist, sondern, dass auch die als potentielle Täter wahrgenommenen Anderen ihrerseits Benachteiligte, Leidtragende sind.
Am Ende ist es Zeit für die „show4peace“ – da stehen sie nun auf der Bühne, zusammengewachsen zu einer Gruppe, die nicht mehr von alten Zuordnungen und Feindbildern geprägt ist, sondern in der neue, gleitende, weniger starre Gruppierungen entstanden sind; junge Menschen, die einander gefunden haben, die etwas gemeinsam haben und etwas gestalten können - etwas Neues, Herzeigbares, in dem Platz ist für die eigenen, komplexen Emotionen, für das eigene Leiden wie das des anderen.
Evelyn Böhmer-Laufer
Initiatorin und Leiterin des Projekts peacecamp